Mission One Health
Der Epidemiologe Jakob Zinsstag forscht in den armen Ländern des globalen Südens und plädiert für "One Health": Für eine bessere Gesundheitsversorgung sollen Human- und Tiermedizin, aber auch Ernährung und Umwelt berücksichtigt werden. Von Irène Dietschi
(Aus "Horizonte" Nr. 110 September 2016)
Seit frühster Kindheit wusste Jakob Zinsstag genau, was er einmal werden wollte: Missionar oder Entwicklungshelfer. Dieser Wunsch war so stark, dass er als Elfjähriger eine Missionarin in die Sonntagsschule nach Visp, in seinen Geburtsort, einlud und alles über das Wirken in armen Ländern wissen wollte. Später zog es ihn, zweitjüngstes von acht Kindern, regelmässig in den Jura, wo er auf den Bauernhöfen seiner mütterlichen Verwandten auf den Feldern aushalf und die Kühe im Stall versorgte. Die Liebe zu den Tieren bewog ihn, Veterinärmedizin zu studieren. Mit 25 arbeitete Zinsstag als frischer Dr. med. vet. in einer Grosstierpraxis in Pruntrut, während seine Frau ihre erste Stelle als reformierte Pfarrerin antrat. Die Zukunft versprach ein Leben in geregelten Bahnen. Sorglos und einträglich. Doch Zinsstag langweilte sich.
Veränderung ist das Grösste
Heute ist der 54-Jährige Titularprofessor für Epidemiologie am Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Institut (Swiss TPH) in Basel – und sein Leben könnte nicht aufregender sein. Soeben kommt er von einem zweitägigen Symposium des Collegium Helveticum zur Krebsforschung. Vorher war er in Äthiopien, wo er zusammen mit lokalen Partnern und seinem Team die Gesundheitsversorgung der Nomaden in Ogaden, dem somalischen Regionalstaat im Süden des Landes, erfassen und verbessern will. "Wir sind dort seit Beginn mit gemischten Teams unterwegs – Human- und Veterinärmedizinern, aber auch Spezialisten für Weidewirtschaft, Ethnologen und anderen Humanwissenschaftlern ", erklärt er. "Herausfinden wollen wir: Wie ist der Ernährungszustand der Kinder? Haben schwangere Frauen Zugang zu Hebammen? Wie ist der Boden beschaffen, wie geht es den Tieren?" Aus den Ergebnissen werden sie Ideen ableiten, wie man die Gesundheitsdienste vor Ort an die Bedürfnisse der Menschen anpassen könnte.
"One Health" heisst dieser Ansatz, der Human- und Tiermedizin, aber auch Lebensmittelproduktion und Umweltbedingungen berücksichtigt. Zinsstag ist einer der wichtigsten Vertreter dieser Forschungsrichtung, er hat unzählige Artikel darüber geschrieben, ein Buch herausgegeben und vor allem sehr viele Projekte in ganz unterschiedlichen Regionen der Welt initiiert, in Afrika, Asien, Zentralamerika. Alle sind dem One-Health-Ansatz verpflichtet. Fast ein Drittel seiner Arbeitszeit verbringt er auf Reisen. "Es sind viele Projekte, doch wir finden immer einen Weg", sagt er ernsthaft, während wir zum nahen Café marschieren. Sein breitbeiniger Gang verrät noch immer den Bauern, der er auch hätte werden können. Neben One Health haben seine Projekte einen weiteren gemeinsamen Nenner: Sie sind transdisziplinär. Das heisst: Die Menschen vor Ort sind genauso in die Forschung eingebunden wie die Schweizer Wissenschaftler, die sie angestossen haben. "Für mich ist die akademische Welt Mittel zum Zweck: Nicht die Publikation ist das höchste der Gefühle, sondern die Veränderung, die ich bewirken kann", sagt er.
Von Afrika nach Basel
Der Tierarztpraxis in Pruntrut kehrte Jakob Zinsstag damals den Rücken, um sich als Postdoc am Swiss TPH zu verpflichten. Danach lebten er und seine Frau mit vier kleinen Töchtern, die zwischen 1989 und 1996 zur Welt kamen, acht Jahre lang in Westafrika. Zinsstag war Projektleiter in einem internationalen Forschungszentrum für Schlafkrankheit in Gambia, anschliessend Direktor des Centre Suisse de Recherches Scientifiques in Abidjan, Elfenbeinküste.
Es war Marcel Tanner, der Zinsstag zurück in die Schweiz holte. "Ich schlug ihm vor, aus der Sicht der Veterinärmedizin ein Forschungsprogramm für die nomadische Bevölkerung in Tschad aufzubauen. Weil diese so eng mit ihren Tieren zusammenlebt und weil weltweit zoonotische Erkrankungen – Krankheiten, die in Mensch und Tier vorkommen – eine grosse globale Herausforderung darstellen", erzählt der langjährige Direktor des Swiss TPH, offenkundig noch heute begeistert über seinen Schachzug im Jahr 1998. "Der Gedanke dahinter war, veterinär- und humanmedizinische Dienste zu koppeln und das Konzept von One Health umzusetzen. "
Hunde impfen statt Bisse behandeln
Die Idee verfing. Unterstützt vom Schweizerischen Nationalfonds stellten Zinsstag und sein Team bei ihren Feldstudien fest, dass die Kühe der nomadischen Gemeinschaften geimpft waren, die Kinder jedoch kaum. "Also lag es auf der Hand, gemeinsame Impfdienste für Mensch und Tier auf die Beine zu stellen, indem man die Kühlkette und den Transport teilte." Die Daten der Basler Forscher helfen auch mit, in Tschad die Tollwut zu bekämpfen. Die Krankheit bedroht in Afrika Millionen von Menschen und wird hauptsächlich von Hunden übertragen, was vor allem in den Städten ein Problem ist. "Wir haben ein mathematisches Modell entwickelt, aufgrund dessen wissen wir: Es ist wirksamer und kostengünstiger, präventiv alle Hunde zu impfen, als einzelne Menschen nach Hundebissen zu behandeln", erzählt Zinsstag.
Mit seinem Team führte er 2012 und 2013 in N'Djamena eine Massenimpfaktion an 20 000 Hunden durch, was die Übertragung der Tollwut in der Hauptstadt zusammenbrechen liess. Der Beweis war erbracht: "Die Tollwut kann ausgerottet werden – ein Ziel, das Afrika bis 2030 erreichen will." Entscheidend, betont Zinsstag, sei dabei das Engagement des tschadischen Staats gewesen, der sich mit Personal und dem Bereitstellen der Logistik an der Aktion beteiligt habe.
Parallel zu seinen Einsätzen auf dem Feld trieb Jakob Zinsstag seine akademische Karriere voran. 2004 wurde er Privatdozent der Universität Basel, 2008 erhielt er zwei verlockende Angebote: von der Universität München als Professor für tropische Veterinärmedizin und von der Universität Zürich als Professor für Epidemiologie. Beide lehnte er ab. Aus Loyalität zum Swiss TPH. "Die Arbeitsbedingungen hier sind einmalig." Zinsstag gerät ins Schwärmen und beschreibt mit leuchtenden Augen die Epiphanie, als ihm damals klar geworden sei, dass er als Tierarzt auf das Wissen von 20, 30 Disziplinen zugreifen und dieses gewinnbringend in die Entwicklungsländer tragen könne.
Irgendwie ist aus ihm doch ein Missionar geworden.
Irène Dietschi ist freie Wissenschaftsjournalistin in Zürich.
Ein Arzt für alle
Neben One Health vertritt Jakob Zinsstag konsequent die Transdisziplinarität. Seine Projekte schliessen stets lokale Partner aus anderen Disziplinen ein. Schon am Centre Suisse in Abidjan bewirkte er so einen Paradigmenwechsel: Aus der Forschungsdestination für Schweizer schuf er eine Plattform, die lokale Forschende einbezog.