Offene Wissenschaft – nicht nur in der Krise nötig

Dass eine offene Wissenschaft der Normalfall werden muss, fordern der SNF und andere Organisationen seit Jahren. Die Corona-Krise bestätigt die Richtigkeit dieser Forderung auf drastische Weise.

Nur wenige Tage nachdem das Virus Sars-CoV-2 im Januar 2020 in China identifiziert wurde, waren Details seiner Struktur schon online und konnten weltweit zur Suche nach Lösungen genutzt werden.Resultate und Daten verbreiteten sich mit Höchstgeschwindigkeit. Im Wettlauf gegen das Virus waren und sind die internationale Zusammenarbeit der Forschung sowie der freie Zugang zum Wissen entscheidend.

Übertragungsketten rekonstruieren

Die Notwendigkeit des freien Zugriffs auf Daten kennt Richard Neher, Professor am Biozentrum der Universität Basel, aus seiner täglichen Arbeit. Innerhalb weniger Wochen wurde er zu einem gefragten Experten für die Corona-Pandemie. Seit langem setzt er sich für eine offene Wissenschaft ein, auch als sogenannter Open-Access-Botschafter des SNF.

Richard Neher und sein Team forschen zur Ausbreitung von Viren; dafür haben sie die Webapplikation Nextstrain entwickelt. "Da Viren aufgrund ihrer hohen Fehlerrate beim Vervielfältigen des genetischen Materials ständig mutieren, hinterlassen sie eine einfach nachzuverfolgende Spur", sagt er. Zirkulierende Übertragungsketten lassen sich mit Nextstrain rekonstruieren. So lässt sich nachvollziehen, wie Viren und Ausbrüche in verschiedenen Regionen miteinander verwandt sind. Das funktioniert allerdings nur so gut, wie auch die Ergebnisse anderer Forschender öffentlich zugänglich sind.

Zugriff auf gesamten Korpus

Aber es geht um mehr als nur um den Austausch von Forschungsdaten (Open Research Data), es geht auch um den ungehinderten Zugang zur wissenschaftlichen Literatur (Open Access). Die Covid-19-Pandemie zeige die Dringlichkeit, diesen Zugang weltweit zu öffnen, sagt Matthias Egger, Präsident des Nationalen Forschungsrats des SNF und Leiter der nationalen wissenschaftlichen Taskforce zu Covid-19. Er ist wie Richard Neher Verfechter einer offenen Wissenschaft. Praxis und Forschung müssten ohne Verzögerung auf den gesamten Korpus der wissenschaftlichen Literatur zugreifen können. "Deshalb hat sich der SNF dem Aufruf der internationalen Koalition der Bibliothekskonsortien angeschlossen, alle relevanten Inhalte zu Covid-19 öffentlich zugänglich zu machen", so Matthias Egger.

Nachhaltigkeit erforderlich

Aktuell unterstützt die Bibliothek der ETH Zürich spezifisch die Verbreitung von Wissen mit Bezug zu Covid-19, indem sie Forschenden die Kosten zur Veröffentlichung aller entsprechenden Artikel in Open Access finanziert. Solche Bestrebungen freuen Matthias Egger. "Der SNF setzt sich seit Jahren für den freien Zugang zu Forschungsergebnissen ein. Es ist wünschenswert, dass die Anerkennung von Open Access und Open Research Data im Wissenschaftsdiskurs auch nach der Corona-Krise nachhaltig bestehen bleibt."

Richard Neher und sein Team am Biozentrum Basel arbeiten inzwischen an einer neuen Software: "Covid-19 Scenarios". Damit lassen sich unter Berücksichtigung von Faktoren wie Saisonalität oder ergriffene Vorsorgemassnahmen verschiedene Covid-19-Szenarien simulieren. Auch für dieses Planungsinstrument gilt: Seine Wirksamkeit und Genauigkeit entfaltet es dank dem freien und raschen Zugang zu Forschungsdaten.

Ressourcen besser nutzen

Die klinische Forschung in der Schweiz testet Medikamente und mögliche Impfstoffe gegen das Coronavirus. Dafür braucht sie den freien Zugriff auf Daten und Publikationen, wie Annette Magnin betont. Sie ist Geschäftsführerin der schweizerischen Dachorganisation für klinische Forschung.

Wie wirken sich offene Forschungsdaten und Publikationen auf die klinische Forschung aus?

Der freie Zugriff ermöglicht es, die Ressourcen der Wissenschaft besser zu nutzen. Zum Beispiel lässt sich so verhindern, dass dieselbe Frage zweimal unabhängig voneinander bearbeitet wird. Schliesst man sich zusammen, kann man beginnen, die Daten zusammenzufügen. Oder: Erheben die Forschenden das gleiche Set von Parametern, sind die Studien besser vergleichbar.

Hat die Corona-Krise die Haltung zur offenen Wissenschaft verändert?

Es ist zu früh, eine solche Frage zu beantworten. Aber ich nehme an, dass die Krise die Diskussion über die freie Verfügbarkeit des Wissens anfachen wird.

Sehen Sie auch Risiken in der raschen Verbreitung von Daten und Ergebnissen?

Transparenz allein reicht nicht aus. Es braucht nebst der Verfügbarkeit weiterhin eine – möglichst unabhängige – Beurteilung der Qualität und Evidenz dessen, was verbreitet wird.

Das vollständige Interview mit Geschäftsführerin Annette Magnin und Präsidentin Christiane Pauli-Magnus finden Sie auf der Open-Access-Website des SNF.

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