Tierversuche und 3R (3/4): Immunzellen arbeiten in einer komplexen Welt
Manche Forschungsfragen können nur mit Tiermodellen beantwortet werden, beispielsweise beim vom SNF finanzierten Projekt über Viren im Mäusehirn.
«Das Immunsystem kommt an einen Ort zur Welt, wird an einem anderen ausgebildet und geht an einem dritten zur Arbeit.» Natalia Pikor, Leiterin einer Forschungsgruppe am Kantonsspital St. Gallen, untersucht dieses hochkomplexe System, das für die Gesundheit von Wirbeltieren wie auch Menschen entscheidend ist. Zentral sind dabei die Immunzellen, die konstant auf Patrouille sind, auf der Suche nach Eindringlingen. Wenn sie einen solchen ausmachen, produzieren sie Antikörper und eliminieren infizierte Zellen. Im Körper bekämpfen sich Mikroorganismen und Immunzellen bis zum Tod. Pikor erforscht diese Vorgänge im Gehirn von Mäusen anhand des Mäuse-Coronavirus – was sie schon vor dem Ausbruch der Sars-Cov-2-Pandemie gemacht hat.
Zellen zur richtigen Zeit am richtigen Ort
Ein wichtiger Ort im Leben der Immunzellen sind die Lymphknoten, die zum Ausbildungssystem gehören. Dort treffen unterschiedliche Zellen in komplexen Prozessen aufeinander, fast wie Lehrpersonen und Kinder in einem Schulzimmer. Alle müssen zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Im Gehirn hat Pikor nun eine Ansammlung von Zellen entdeckt, die Zellen in den Lymphknoten sehr ähnlich sind, die dort die Infrastruktur bilden. Sie sind um die Blutgefässe im Gehirn positioniert und beherbergen dort die Immunzellen.
Natalia Pikor will folgende Hypothese prüfen: Nachdem das Immunsystem das Coronavirus erfolgreich unter Kontrolle gebracht hat, ziehen sich gewisse Immunzellen in diesen Raum zurück und fungieren als eine Art «Immunüberwachung», wie sie es nennt. Falls dort ruhende Viren sich wieder aktivieren, sind die Zellen von Beginn weg kampfbereit. Wenn die Hypothese stimmt, könnte dies Anhaltspunkte dazu geben, wie zum Beispiel die Viren von Masern, Herpes oder Covid-19 die Zellen im menschlichen Gehirn angreifen, und wie sich die Viren reaktivieren, wenn das Immunsystem beeinträchtigt ist. Ausserdem könnte dies erklären, weshalb in manchen Fällen das Überwachungssystem überreagiert und Autoimmunerkrankungen wie Multiple Sklerose verursacht.
Eine Maus mehrmals in ihrem Leben scannen
Ist es nicht trotz diesem klaren Nutzen hart, diese Versuche an den Mäusen durchzuführen? Die meisten fallen unter den Schweregrad 1 (leichte Belastung) auf einer Skala von 0 bis 3, manche aber auch unter den Schweregrad 2. «Am Anfang meines Doktorats fand ich es sehr schwierig», erklärt Pikor. «Doch ich habe über Patientenorganisationen auch Menschen kennengelernt, die unter den Krankheiten leiden, die wir untersuchen, und bin zum Schluss gekommen, dass die Versuche gerechtfertigt sind.»
Natalia Pikor und ihre Forschungsgruppe versuchen, die Belastung für die Tiere möglichst gering zu halten und das mit einem einzelnen Tier gewonnene Wissen zu maximieren. Jede Maus wird so eingesetzt, dass möglichst viele Daten gewonnen werden. Zum Beispiel wird in einer Hirnhälfte das Gewebe untersucht und in der anderen werden die verschiedenen Zelltypen gezählt. Dank neuer Scanning-Techniken kann eine Maus während ihres ganzen Lebens beobachtet werden, und es muss nicht für jede Etappe ein Tier geopfert werden. Mit genetischen Züchtungsmethoden lässt sich die Zahl der notwendigen Generationen zudem deutlich reduzieren. Mäuse, die nicht die richtigen Gene erhalten haben, können für andere Studien verwendet werden. «Im Allgemeinen ist wissenschaftliche Effizienz gut mit dem Tierwohl vereinbar», ist Pikor überzeugt.
SNF gewährleistet hohe Forschungsqualität
2019 stellte der SNF Forschungsgelder von über 970 Millionen Schweizer Franken zur Verfügung. Fast 140 Millionen Franken flossen in Forschungsprojekte mit Tierversuchen. Die meisten beinhalten eine Kombination von Methoden, die zu einem Grossteil nicht auf Tierversuchen basieren, sondern zum Beispiel auf Zellkulturen. Alle Forschungsprojekte mit Tieren müssen ethischen Prinzipien genügen, die als 3R bezeichnet werden. Diese 3 R stehen für Replace, Reduce und Refine und schreiben vor, dass wenn möglich alternative Methoden zu verwenden sind, dass die Zahl der Tiere auf dem absoluten Minimum zu halten ist und dass die Versuche das höchstmögliche Tierwohl gewährleisten müssen.
Die Forschung von Natalia Pikor zum Immunsystem basiert hingegen fast ganz auf Mäusen. Derzeit ist es unmöglich, Wissen über ein solch komplexes lebendes System ohne das lebende System selber zu sammeln. «Wir können die verschiedenen Gewebe, die an einer Immunantwort beteiligt sind, nicht in einer Petrischale replizieren», erklärt die Immunologin. Dafür müssten alle Lebensetappen einer Immunzelle nachgebildet und miteinander verbunden werden. Jede Station beinhaltet viele feine Schichten von Zellen, die genau so angeordnet sind, dass sie die Ausbildung der Immunzellen optimieren. Dieses Netzwerk löst sich auf, sobald die Zellen den Kontakt mit den Zellen um sie herum verlieren, wie dies bei einem Versuch in der Petrischale der Fall wäre.
Veterinäramt wägt Nutzen und Belastung ab
Pikor hat vom SNF einen Ambizione-Beitrag erhalten. Dieses Förderinstrument unterstützt vielversprechende junge Forschende, die selbständig eine eigene Forschungsgruppe führen möchten. Der SNF holte bei international anerkannten Expertinnen und Experten Gutachten zum Fördergesuch von Pikor ein. Sie beurteilten, ob im Projekt die aktuellsten Techniken verwendet und die Voraussetzungen für wissenschaftlich wertvolle Erkenntnisse gegeben sind. Danach erfolgt durch das Amt für Verbraucherschutz und Veterinärwesen des Kantons St. Gallen eine Abwägung des gesellschaftlichen Nutzens der Erkenntnisse gegenüber der Belastung der Labormäuse. Erst nach dieser Bewilligung überwies der SNF den Beitrag an Natalia Pikor: 850'000 Schweizer Franken für vier Jahre.