«Musizieren sollte im Leben aller mehr Raum einnehmen»
Clara James war professionelle Violinistin, bevor sie Forscherin wurde. Besonders fasziniert ist sie von der Wirkung der musikalischen Praxis auf das Gehirn.
Auf den ersten Blick wirkt Clara James ruhig und zurückhaltend. Doch sobald sie über ihre neurowissenschaftlichen Forschungsprojekte spricht, sprüht sie vor Begeisterung. Auch über ihr Leben als Berufsmusikerin – sie spielte früher professionell Geige – redet sie mit Enthusiasmus: Sie schildert Anekdoten und erklärt die Wissenschaft anhand der Musik. «Ich werde oft gefragt, ob ich den Wechsel in die Forschung bereue. Das ist überhaupt nicht der Fall. Denn der rote Faden ist geblieben: das Lernen.» Genau das ist die Triebfeder von James, geigenspielende Neurowissenschaftlerin. Oder umgekehrt.
Das Gehirn dirigiert
Ein Blick zurück. Nach einer zehnjährigen Musikkarriere in den Niederlanden verlässt Clara James ihre Heimat und folgt ihrem Partner nach Genf. Sie gibt weiterhin Konzerte, möchte aber wieder studieren. Sie interessierte sich schon immer für Forschung – ihr Vater war Zellbiologe – und immatrikuliert sich deshalb an der Universität Genf, wo sie einen Bachelor und einen Master in experimenteller Psychologie macht und schliesslich in Neurowissenschaften doktoriert. Heute ist sie Professorin an der Hochschule für Gesundheit in Genf, leitet dort das Forschungsinstitut und unterrichtet als ausserordentliche Professorin an der Universität Genf das Fach Neuropsychologie der Musik. «Ich stelle mir immer viele Fragen, denke mathematisch und mag die Dynamik in der Wissenschaft, die jeden Tag eine neue Entdeckung hervorbringen oder frühere Ergebnisse widerlegen kann. Tief drinnen war ich wohl schon immer eine Wissenschaftlerin.»
Das Lieblings-Studienobjekt von James ist das Gehirn. «Sozusagen der Dirigent unseres Lebens!» Als Musikerin bringt sie ideale Voraussetzungen mit, um die Beziehung zwischen Musik und Gehirn zu untersuchen: Wie beeinflusst das Musizieren selbst oder die Intensität beim Üben die neuronale Plastizität? Unser Gehirn ist von Geburt bis zum letzten Atemzug plastisch. Der Spielraum sei somit gross.
In einer ihrer Forschungsarbeiten konnte James zeigen, dass Kinder, die in einem Schulorchester spielen, durch das Musizieren ihre intellektuellen und motorischen Fähigkeiten verbessern. Eine andere Arbeit dagegen relativiert die aussergewöhnliche Gabe des absoluten Gehörs: Es ist keine Voraussetzung für Musikerinnen und Musiker, auch auf hohem Niveau nicht.
Musik wirkt Wunder
In letzter Zeit hat sich die Forscherin, insbesondere dank der Finanzierung durch den Schweizerischen Nationalfonds, hauptsächlich auf die Frage konzentriert, wie Musik dazu beitragen kann, den Abbau der kognitiven und sensomotorischen Fähigkeiten bei älteren Menschen aufzuhalten. «Wir möchten aufzeigen, wie Musik die Selbständigkeit und damit das Wohlbefinden der Betroffenen und ihrer Umgebung positiv beeinflusst», erklärt James. Ein Beispiel: Wenn ältere Menschen lernen Klavier zu spielen, bleiben bestimmte Teile der weissen Hirnsubstanz, d. h. der neuronalen Verbindungen, länger erhalten, insbesondere in einer für das Gedächtnis wichtigen Hirnregion. Und das ist noch nicht alles. Das Musizieren im Alter fördert auch das Hörvermögen trotz Umgebungslärm, das Arbeitsgedächtnis und natürlich die Feinmotorik, die beim Umgang mit Mobiltelefonen und Tablets nützlich ist. Das hinterlässt Spuren im Gehirn. Aufgrund dieser Ergebnisse ist Clara James überzeugt: «Aktives Musizieren sollte über das gesamte Leben mehr Raum einnehmen und allen Menschen unabhängig vom Einkommen offen stehen.»
Eine Frage bleibt noch: Was bringt das Geigenspielen heute der Forscherin selbst? James zögert keinen Moment: «Schauen Sie sich in meinem Büro um: Ich habe zwei Computer, vier Bildschirme, überall Post-its. Bei meiner Arbeit muss ich konstant an mehrere Dinge denken, manchmal wache ich deswegen sogar nachts auf. Wenn ich hingegen Geige spiele, fokussiert sich mein Gehirn auf eine einzige Aufgabe. Das hat für mich eine meditative Komponente.»