"Die Schweizer Forschung braucht Europa"

Das nächste europäische Forschungsrahmenprogramm Horizon Europe beginnt 2021 und dauert sieben Jahre. Angelika Kalt, Direktorin des SNF, über die Bedeutung des Programms für die Forschung unseres Landes – und warum die Schweizer Beteiligung gefährdet ist.

Die Schweizer Forschung belegt im internationalen Vergleich eine führende Position. Ist es überhaupt wichtig, dass sie sich an Horizon Europe beteiligen kann?

Ja, denn heutige Spitzenforschung wird in der Regel durch mehrere Forschungsgruppen gemeinsam betrieben. Diese stammen oft aus unterschiedlichen Ländern. Wie schon das laufende Programm Horizon 2020 fördert das kommende Programm Horizon Europe die Vernetzung und Zusammenarbeit zu globalen Herausforderungen wie Gesundheit oder Klimawandel. Ausserdem hat es einen Schwerpunkt Innovation, der vor allem für die Schweizer KMU wichtig ist.

Die Forschenden in der Schweiz profitieren auch vom Auswahlverfahren: Sie messen sich mit den Besten ihres Fachgebiets in Europa, um finanzielle Mittel zu erhalten. Dieser Wettbewerb zwingt zu hoher Qualität.

Von enormer Bedeutung ist zudem die innereuropäische Mobilität, die durch einige Instrumente von Horizon Europe gefördert wird.

Der SNF befürchtet, dass ein Ja zur Selbstbestimmungsinitiative die Beteiligung der Schweiz an Horizon Europe gefährdet. Warum?

Die Initiative will den Vorrang von Schweizer Recht gegenüber dem nicht-zwingenden Völkerrecht in der Verfassung verankern. Völkerrechtliche Verträge, die einem neuen Verfassungsartikel widersprechen, müssten gekündigt oder neu verhandelt werden. Bei einer Annahme der Initiative ist unklar, inwieweit die bilateralen Verträge, das Personenfreizügigkeitsabkommen oder das Forschungsabkommen betroffen wären. Und wie die Europäische Union reagieren würde.

Müsste die Schweizer Wissenschaft tatsächlich mit negativen Konsequenzen rechnen?

Wir haben nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative 2014 eine solche Erfahrung gemacht. Der Ausschluss unseres Landes vom Forschungsrahmenprogramm Horizon 2020 war eine Folge dieser Abstimmung. Im Laufe des Jahres 2014 konnte die Schweiz durch Verhandlungen eine Teilassoziierung erwirken. Seit 2016 ist sie wieder voll assoziiert. Aber der vorübergehende Teilausschluss hat dem Forschungsplatz Schweiz geschadet.

Inwiefern?

Verglichen mit dem Vorgängerprogramm ist die Schweizer Beteiligung an Projekten von 3,2 auf 2,4% zurückgegangen. Und die finanziellen Beiträge an Schweizer Projektpartner sanken von 4,3 auf 3,5%. Weniger Schweizer Forschende erhielten eine Einladung, in Forschungsnetzwerken mitzuarbeiten. Ausserdem waren sie für kurze Zeit von den Förderungsinstrumenten des Europäischen Forschungsrats ausgeschlossen.

Aber der Bund hat Ersatzmassnahmen ergriffen?

Ja, er hat die Kosten von Schweizer Beteiligungen an europäischen Verbundprojekten übernommen. Die Rechtsunsicherheit hielt jedoch einen Teil der Forschenden in anderen europäischen Ländern davon ab, mit Forschenden in der Schweiz zu kooperieren. Das dürfte sich bei einem erneuten Ausschluss wiederholen.

Könnte nicht der SNF zusätzliche Förderinstrumente schaffen, um einen Rückgang in Europa auszugleichen?

Das haben wir während des Ausschlusses der Schweizer Forschung von Horizon 2020 getan. Solche Massnahmen sind jedoch nur eine kurzfristige Notlösung. Die europäische Zusammenarbeit und den europäischen Wettbewerb können wir nicht durch nationale Instrumente ersetzen.

Und wenn die Assoziierung an Horizon Europe trotz Annahme der Selbstbestimmungsinitiative zustande käme, wäre dann alles in Ordnung?

Nein, denn die entstehende Rechtsunsicherheit würde generell die Forschungszusammenarbeit mit Europa behindern. Für die Schweizer Wissenschaft sind der Ruf als verlässlicher Partner und stabile internationale Beziehungen, vor allem zur EU, notwendig. Wenn die internationale Zusammenarbeit beeinträchtigt wird, leidet die Qualität der Forschung. Das würde unserem Land Nachteile bringen, weil Forschung und Innovation der Motor des ökonomischen und gesellschaftlichen Wohlstands und Wandels sind.

Der SNF ist nicht nur wegen der Selbstbestimmungsinitiative besorgt, sondern auch wegen des Rahmenabkommens zwischen der Schweiz und der EU.

Das Rahmenabkommen ist wichtig für Stabilität und Rechtssicherheit in den Beziehungen der Schweiz zur EU. Inhaltlich hat es keine direkte Verbindung mit Horizon Europe. Nach den Erfahrungen mit der Masseneinwanderungsinitiative scheint es aber wahrscheinlich, dass die Haltung der Schweiz in diesem politischen Dossier einen Einfluss auf ihre Beteiligung an Horizon Europe haben wird.

Was kann der SNF tun?

Momentan erarbeitet das Europäische Parlament seine Stellungnahme zum ersten Entwurf von Horizon Europe. Dabei geht es unter anderem um die Assoziierung von Nicht-EU-Ländern wie der Schweiz. Das Parlament wird noch im November 2019 darüber befinden.

Der SNF setzt sich zusammen mit dem Bund und den anderen Akteuren aus der Schweizer Wissenschaft dafür ein, dass das Europäische Parlament dem assoziierten Status unseres Landes zustimmt. Davon profitiert auch die europäische Forschung. Denn für diese ist die Beteiligung der Schweiz mit ihrer starken Forschung und ihrem erheblichen finanziellen Beitrag ein grosser Gewinn. Will sich Europa gegenüber Nordamerika und Asien in der Wissenschaft und damit auch in der Wirtschaft behaupten, ist es auf eine enge Zusammenarbeit aller Länder angewiesen.

Angelika Kalt

Angelika Kalt ist seit 2016 die Direktorin des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Sie besitzt einen Doktortitel in Erdwissenschaften und war während acht Jahren ordentliche Professorin für Petrologie und interne Geodynamik an der Universität Neuenburg. 2008 trat sie als stellvertretende Direktorin in den SNF ein. 2014 leitete sie die Umsetzung der Übergangsmassnahmen "Temporary Backup Schemes" des SNF. Diese wurden lanciert, um dem befristeten Ausschluss der Schweiz aus dem europäischen Forschungsprogramm Horizon 2020 zu begegnen.

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