Streit um die neue Erblichkeit
Erfahrungen hinterlassen epigenetische Spuren im Erbgut. Wie weit dies auch die Nachkommen prägen wird, ist umstritten. Von Ori Schipper
(Aus "Horizonte" Nr. 111 Dezember 2016)
In der Biologie tobt ein Ideenstreit. Es geht um ein grosses und zentrales Thema: die Vererbung. Darwin stellte 1859 in seinem epochalen Werk "On the Origin of Species" eine "Ignoranz" fest, wie die Unterschiede zwischen den Individuen zustande kommen. Erst mit der "modernen evolutionären Synthese" in den 1940er Jahren setzte sich die Überzeugung durch, dass die Erblichkeit genetisch funktioniert – die Eigenschaften von Lebewesen würden also einzig von der Erbsubstanz DNA an die nächsten Generationen übertragen.
Diese Sichtweise ermöglichte in den folgenden Jahrzehnten eine nützliche Fokussierung, der wir ausserordentliche Einsichten verdanken. Viele Aspekte der Form und der Funktion von Lebewesen lassen sich damit erklären. Doch schon in den 1950er Jahren stellten verschiedene Beobachtungen die Alleinherrschaft der Gene in Frage. So können etwa Maiskörner trotz identischer DNA-Sequenz eine unterschiedliche Farbe aufweisen.
Pflanzen erinnern sich an Dürrestress
Weitergehende Untersuchungen förderten ans Licht, dass die verschiedenartigen Erscheinungsformen von Individuen mit exakt gleichem Erbgut auf eine unterschiedlich starke Aktivität der Gene zurückzuführen sind. Ob ein bestimmter Erbgutabschnitt aktiv ist – also abgelesen wird oder nicht –, hängt in entscheidendem Mass davon ab, wie dicht die DNA verpackt ist.
Die Verpackungsdichte wird von mehreren – sogenannten epigenetischen – Mechanismen beeinflusst. Sie bilden ein komplexes Räderwerk, das etwa kleine chemische Anhängsel an die Erbsubstanz anheften oder abtrennen kann. Dabei gilt: Je dichter verpackt, desto schwerer der Zugang der Ablesemaschinerie der DNA – und desto inaktiver ein betroffenes Gen.
Die Steuerung der epigenetischen Mechanismen erlaubt es Lebewesen, sich an eine unbeständige Umwelt anzupassen. So sorgt das epigenetische Räderwerk etwa dafür, dass Pflanzen besser mit Hitze- oder Dürrestress umgehen können, wenn sie zuvor schon einmal eine ähnliche Situation durchleiden mussten. Dabei stellen die epigenetischen Markierungen im Erbgut eine Art Stressgedächtnis der Pflanzen dar. So weit herrscht unter den Biologen Konsens.
Zweifel an der Vererbung auf Kinder
Mehrere Studien legen aber nahe, dass auch die Nachkommen gestresster Pflanzen besser gegen die Gefahren gewappnet sind, die ihre Vorfahren meistern mussten. "Allerdings werden diese Studien kontrovers diskutiert", sagt Ueli Grossniklaus, Direktor des Instituts für Pflanzen- und Mikrobiologie der Universität Zürich. Wie viele andere an der Aufschlüsselung von Mechanismen beteiligte Epigenetiker ist er der Meinung, dass "sich aufgrund der bisherigen lückenhaften Beweislage noch nicht sagen lässt, inwiefern erworbene Merkmale stabil über mehrere Generationen hinweg vererbt werden". Ob die Epigenetik den Organismen tatsächlich auch längerfristig Vorteile bringt und in der Evolution eine Rolle spielt, sei zwar eine sehr reizvolle Idee, müsse sich aber noch weisen.
Nicht nur bei Pflanzen, sondern auch bei Mäusen sorgen Resultate über eine Vererbung epigenetischer Markierungen für Aufsehen. Um etwa die möglichen Langzeitfolgen eines schweren Kindheitstraumas zu untersuchen, hat die Forschungsgruppe um Isabelle Mansuy, Professorin für Neuroepigenetik an der Universität und der ETH Zürich, wenige Tage alte Mäusebabys während drei Stunden täglich von ihren Müttern getrennt.
Mäuseväter geben Trauma weiter
Im Erwachsenenalter zeigen diese Mäuse mit einer schweren Kindheit und entsprechenden chemischen Spuren im Erbgut Verhaltensauffälligkeiten. So verbringen sie etwa im Vergleich zu Kontrollmäusen, die immer bei ihrer Mutter bleiben durften, deutlich mehr Zeit in der hell erleuchteten Hälfte eines Käfigs als im dunklen Teil.
Aus dem Verhalten der Mäuse schlossen die Forschenden, dass die traumatisierten Tiere depressive Symptome und gleichzeitig weniger Angst zeigten. "Sie scheinen die Gefahr zu suchen, wie man das etwa auch vielfach bei US-Kriegsveteranen beobachtet, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden", sagt Mansuy.
Die gleichen Verhaltensauffälligkeiten beobachteten die Forschenden um Mansuy erstaunlicherweise auch bei den Nachkommen von traumatisierten Mäusemännchen – auch wenn die Mäusejungen nie von ihrer nicht traumatisierten Mutter getrennt wurden. Offenbar transportieren die Spermien ein epigenetisches Signal, das auch die Genaktivität der Nachkommen zu formen vermag.
Epigenetische Erinnerungen gelöscht
Vielen Experten bereitet genau dieser Punkt das grösste Unbehagen. Sie argumentieren, dass das Erbgut schon während der Reifung der Spermien und danach auch in der befruchteten Eizelle einer massiven epigenetischen Reprogrammierung unterworfen ist. Dieser fallen die meisten epigenetischen Markierungen zum Opfer, die Vater und Mutter im Laufe des Lebens erworben haben.
"Einverstanden", sagt Mansuy, "doch es gibt erwiesenermassen auch Markierungen, die diese Reprogrammierung überstehen." Ausserdem gäbe es noch andere epigenetische Mechanismen. So enthielten Spermien zusätzlich zur Erbsubstanz aus DNA auch eine komplexe Sammlung kleiner und kleinster RNA-Moleküle, die in das epigenetische Räderwerk eingreifen können und damit in der generationenübergreifenden Regulation der Genaktivität eine wichtige Rolle spielten.
Mansuy denkt, dass aufgrund ihrer und anderer Versuche zumindest im Prinzip die Existenz epigenetischer Erblichkeitsmechanismen nachgewiesen ist. Sie schätzt ausserdem, dass die Epigenetik teilweise erklären kann, wieso viele komplexe Krankheiten – wie etwa Diabetes, Krebs oder auch psychische Leiden – familiär gehäuft auftreten, obwohl sich diese Vererbungsmuster mit der klassischen Genetik nicht nachvollziehen lassen.
Im Vergleich mit genetischen Mutationen treten Epimutationen etwa tausendmal häufiger auf, wie die Gruppe um Detlef Weigel vom Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie 2011 mit der Untersuchung von 30 Generationen der Ackerschmalwand-Pflanze (Arabidopsis thaliana)zeigte.
Zudem sind Epimutationen grundsätzlich umkehrbar. Vielleicht ist das der Grund, weshalb sich epigenetische Spuren im Erbgut zwar auf die nächste und manchmal auch übernächste Generation übertragen, sich dann aber meist wieder verlieren. Es ist wohl diese Flüchtigkeit und Unbestimmtheit, die den Streit nährt – und wohl noch so lange am Laufen halten wird, bis die Biologie das komplexe epigenetische Räderwerk der Vererbung restlos verstanden hat.
Ori Schipper arbeitet bei der Krebsliga Schweiz und als freier Wissenschaftsjournalist.