Gespräche über die Evolution
Der diesjährige Preis Optimus Agora geht an ein Team, das das Konzept der Evolution mit Beispielen und Experimenten in die Öffentlichkeit tragen will.
Christophe Dessimoz, Professor für Bioinformatik an der Universität Lausanne und am University College London sowie Gruppenleiter am Schweizerischen Institut für Bioinformatik (SIB) hat eine wichtige Gemeinsamkeit mit seinen SIB-Kolleginnen Marie-Claude Blatter, Outreach-Managerin, und Monique Zahn, Trainingsmanagerin: Alle drei haben eine grosse Leidenschaft für die Evolution und die Öffentlichkeitsarbeit. Christophe Dessimoz erstellt phylogenetische Bäume, um die Beziehungen zwischen Lebewesen zu untersuchen. Zu dritt wollen sie diesen Ansatz mit dem Agora-Projekt "In the Light of Evolution" in der Öffentlichkeit bekannt machen. Dafür erhält das Team den diesjährigen Preis Optimus Agora, der im September während des Agora Forums in Freiburg überreicht wird.
Zunächst einmal: Was ist ein phylogenetischer Baum?
Christophe Dessimoz: Es ist ein Diagramm, das zeigt, wie sich verschiedene Arten im Verhältnis zu gemeinsamen Vorfahren entwickelt haben. So kann man zum Beispiel die Evolution des Menschen im Verhältnis zum Gorilla oder zur Maus aufzeigen, aber auch zur Fliege oder zu einer Banane. Heutzutage werden phylogenetische Bäume – dank der Möglichkeiten der Bioinformatik - anhand von DNA oder Proteinsequenzen entwickelt.
Was bringen uns diese Bäume?
Christophe Dessimoz: Phylogenetische Bäume ermöglichen uns zum Beispiel, die weltweite Evolution des Coronavirus zu studieren und neue Varianten zu identifizieren. Sie sind für die Untersuchung von Epidemien unverzichtbar geworden. Über die Beziehung zwischen Arten und Viren hinaus können die Bäume auch dazu verwendet werden, die Evolution von Genen innerhalb von Arten zu untersuchen. Und das ist noch nicht alles: Krebserkrankungen entstehen durch Zellen, die sich unkontrolliert vermehren. Durch die Rekonstruktion dieser Verläufe mit phylogenetischen Bäumen ist es möglich, die molekularen Ursachen besser zu verstehen und in bestimmten Fällen die Behandlung anzupassen.
Wie kam es zum Projekt "In the Light of Evolution"?
Christophe Dessimoz: Wir haben festgestellt, dass das Konzept der Evolution in der Öffentlichkeit nicht sehr bekannt ist. Darwins Evolutionstheorie wird oft erst nach der obligatorischen Schulzeit unterrichtet. Deshalb weiss ein grosser Teil der Bevölkerung nicht, wie die Evolution funktioniert. Dabei können auf diesem Prinzip basierend verschiedenste wissenschaftliche und gesellschaftliche Fragen beantwortet werden. Heute haben wir Beispiele, mit denen wir das Thema konkret erklären können.
Ihr Projekt hat eine spielerische Komponente. Ist das entscheidend, um das Interesse der Öffentlichkeit zu gewinnen?
Marie-Claude Blatter: Ja, wir dürfen den Leuten keine Angst machen! Der spielerische Aspekt öffnet die Tür zum Dialog - erst wenn diese geöffnet ist, können wir wissenschaftliche Konzepte vermitteln. Und wenn man etwas selber ausprobieren kann, versteht man es auch leichter.
Christophe Dessimoz: Es ist wichtig, dass wir die Öffentlichkeit für unsere Arbeit interessieren können - das gilt für alle Forschenden. Das Besondere an der Evolution ist, dass sie ein abstraktes Konzept ist, und damit nicht so einfach zu vermitteln. Mit unserem Projekt wollen wir die Dinge so konkret wie möglich machen.
Was planen Sie genau?
Christophe Dessimoz: Kleine Geschichten. Insgesamt möchten wir in drei Jahren zehn Geschichten erstellen, mit denen wir zeigen können, wofür phylogenetische Bäume verwendet werden können. Zum Beispiel: Was sind die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen der Sequenz eines Kollagenproteins im Tyrannosaurus und im Huhn? Oder: Wie viel DNA haben Menschen und Bananen gemeinsam? Wir präsentieren diese Geschichten zusammen mit multimedialen, interaktiven Elementen wie etwa einem Quiz auf einer Website.
Marie-Claude Blatter: Es wird ausserdem einen praktischen Teil geben, Experimente mit kleinen Manipulationen, die man ganz einfach zu Hause mit einem Stift oder einem Computer durchführen oder an wissenschaftlichen Veranstaltungen präsentieren. Man könnte zum Beispiel mit Linealen arbeiten, auf denen DNA-Sequenzen verschiedener Arten aneinander gereiht sind, um so die ähnlichsten Sequenzen zu finden und sie auf gemeinsame Vorfahren zurückzuführen. Für Lehrpersonen wird es ausserdem die Möglichkeit geben, sich fortzubilden oder Workshops im Klassenzimmer durchzuführen.
Monique Zahn: In den Workshops zu den Geschichten arbeiten wir mit Daten und Protokollen, um die von den Forschenden durchgeführten Analysen zu replizieren. Das ist eine gute Gelegenheit, um zu illustrieren, dass die Wissenschaft schneller vorankommt, wenn alle Zugang zu den Daten haben. So können wir ausserdem zeigen, wie Wissenschaft funktioniert: Man muss Verschiedenes ausprobieren, bevor man Antworten findet. Und diese bauen auf dem bereits erworbenen Wissen auf. Die Evolution eignet sich dafür perfekt.
Wie werden Sie diese Geschichten auswählen?
Christophe Dessimoz: Jede Geschichte wird mit einer Publikation verlinkt sein, die ein Peer-Review-Verfahren durchlaufen hat. Es werden entweder Arbeiten sein, an denen wir persönlich beteiligt sind, oder Arbeiten von Kolleginnen und Kollegen. Die Idee ist, eine wirkliche Verbindung zwischen Forschung und Wissenschaftskommunikation herzustellen.
Sie wollen auch die Grenzen der phylogenetischen Bäume aufzeigen. Warum?
Monique Zahn: Der Ursprung des Coronavirus ist ein gutes Beispiel, um das zu erklären. Um ihn zu identifizieren, müssen die Sequenzen des Virus in verschiedenen Arten vergleichen werden. Man kann aber nur Annahmen treffen und verwerfen, die auf bereits verfügbaren Materialien basieren. Es ist wichtig, der Öffentlichkeit solche Grenzen aufzuzeigen.