"Wer war der Patient, bevor er krank wurde?"
Altersdemenz ist eine kaum heilbare Krankheit. Um die Leiden der Betroffenen zu lindern, sollte die Therapie auch ihre Lebensgeschichten berücksichtigen, sagt der Alterspsychiater Armin von Gunten. Von Ori Schipper
Herr von Gunten, Sie untersuchen, welche Rolle Persönlichkeitsmerkmale wie etwa Ängstlichkeit bei der Altersdemenz spielen. Solche Zusammenhänge entgehen dem Grossteil der Forschung über Alzheimer, die biologische Mechanismen aufdeckt.Ja, wenn wir Daten über einen Patienten sammeln und Blutproben entnehmen oder die Hirnaktivitäten aufzeichnen, gewinnen wir eine Momentaufnahme: ein Bild davon, wie es dem Patienten zum Zeitpunkt der Untersuchung geht. Das ist gut und wichtig. Doch wir sollten uns auch für den zeitlichen Verlauf interessieren. Was war der Alzheimerpatient für ein Mensch, bevor er erkrankte? Die Antwort kann uns helfen, die Behandlung besser auf die individuellen Bedürfnisse abzustimmen. Wenn sich ein Dementer in der Klinik beispielsweise vehement gegen das Duschen wehrt, liegt das vielleicht weniger an einer irrationalen Verhaltensstörung als daran, dass sich der Patient sein Leben lang nur zwei oder drei Mal pro Woche gewaschen hat und es nun als Zumutung empfindet, täglich morgens und abends gereinigt zu werden.Sollten Ärztinnen und Ärzte Ihren Blick also mehr auf die Vorgeschichte und weniger auf die Momentaufnahme richten?Nein, mir geht es nicht um das Entweder-oder, sondern um das Sowohl-als-auch. Wir sollten nicht weniger auf die Befunde in der Klinik achten, aber zusätzlich die Persönlichkeit eines Patienten in Betracht ziehen. Wenn wir die Hygienevorlieben eines Patienten kennen, können wir seine Abwehrreaktion besser einordnen – mit dem Resultat, dass wir eher versuchen, die pflegerischen und psychosozialen Massnahmen anzupassen, statt die Verhaltensstörungen medikamentös zu unterbinden.Ihrer Ansicht nach werden zu oft Medikamente verschrieben?Ich sage nicht, dass Medikamente schlecht sind. Im Gegenteil: Oft sind sie sehr hilfreich. Doch angstlösende und beruhigende Heilmittel, etwa Neuroleptika, die Dementen häufig verschrieben werden, können sich wegen ihrer Nebenwirkungen negativ auf das Gehirn auswirken. Dadurch verstärken Neuroleptika vielleicht die Symptome, auch wenn sie diese vordergründig lindern und einen unruhigen Patienten besänftigen.Was lässt sich denn sonst gegen Alzheimer tun?Altersdemenzen sind in der Regel nicht heilbar. Aber wir müssen die Patienten besser «abholen»: Wenn sich jemand immer für Autos interessiert hat und Sie nun versuchen, seine Aufmerksamkeit mit Tierfilmen zu gewinnen, setzen Sie wahrscheinlich am falschen Punkt an. Im klinischen Alltag sind die Persönlichkeit und die Gewohnheiten eines Patienten ein entscheidendes Phänomen. Wer als Gesunder beim Denken oft herumläuft, wird als Dementer zu den motorisch unruhigen Patienten gehören. Diese Unruhe muss nicht eine Verhaltensstörung sein, die wir korrigieren sollten.Sie schlagen eine an die individuelle Persönlichkeit angepasste Vorgehensweise vor. Sonst fällt das Stichwort "Personalized Health" meist im Zusammenhang mit Therapien, die an das Erbgut angepasst sind.Die Entzifferung des menschlichen Genoms hat der Alterspsychiatrie noch keinerlei Fortschritte gebracht. Genetische Analysen und Magnetresonanzbilder der Hirnaktivität liefern wichtige Informationen, die zur Beantwortung der "Wie-Fragen" beigezogen werden können: Wie hängen Hirnfunktion und Verhaltensstörung zusammen? Wenn die Hirnchemie aus dem Gleichgewicht gerät, reduziert sich die Frage auf ein Neurotransmitterproblem. Doch die "Warum-Frage" bleibt dabei offen: Warum verhält sich ein Patient so und nicht anders? Vielleicht, weil er dadurch seiner Angst entkommen oder zumindest sie abschwächen kann. Was wir als Verhaltensstörungen bezeichnen, ist ein Resultat der Anpassungsmechanismen des erkrankten Hirns. Wir sollten öfters versuchen, statt nur die Hirnchemie das Umfeld zu verändern, an das sich das Hirn, auch das kranke, anzupassen versucht.Ihre Ergebnisse legen nahe, dass Menschen mit einer beginnenden Demenz ängstlicher werden.Ja, dabei scheint sich die Persönlichkeit eines Menschen interessanterweise immer in die gleiche Richtung zu verändern. Während die Ausprägung einzelner Merkmale – etwa "agreeableness", die soziale Verträglichkeit – ungefähr gleich bleibt, geht die beginnende Demenz mit einer Verstärkung des "Neurotizismus", einer schwierig überwindbaren Ängstlichkeit, und einer Schwächung der Offenheit einher.Wie erklären Sie sich das?Der geistige Zerfall beeinflusst die Persönlichkeit: In den Tests, aber auch im Alltag geben sich die Leute generell vorsichtiger und misstrauischer, als sie zuvor waren. Warum das so ist, ist allerdings noch unklar. Umgekehrt wird auch das Gehirn von der Geschichte einer Person geprägt. So erhöht wohl eine schwere oder wiederkehrende Depression das Alzheimer-Risiko, weil sie deutliche Spuren im Hirn hinterlässt und neurotoxisch wirkt. Wir haben zudem herausgefunden, dass gewisse Persönlichkeitsmerkmale, etwa erhöhte Ängstlichkeit, wahrscheinlich Risikofaktoren für eine spätere Demenz sind.Wie könnten Ihre Erkenntnisse konkret genutzt werden?Persönlichkeitsveränderungen können eine beginnende Demenz ankündigen und sind also Indizien für die Diagnose. Sie lassen sich im Gegensatz etwa zur Hirnbildgebung mit einfachen Mitteln abklären und sind deshalb etwa für Hausärzte von Bedeutung. Aber sie könnten auch dazu beitragen, die Situation in den Schwellen-und Entwicklungsländern zu verbessern, wo heute weit mehr als die Hälfte der demenzkranken Menschen lebt, aber nur eine kleine Minderheit korrekt diagnostiziert und behandelt wird. Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass die Anzahl Demenzkranker in den nächsten 40 Jahren von über 30 auf fast 120 Millionen Personen ansteigen wird. Der grösste Anstieg wird in den Schwellen- und Entwicklungsländern erwartet, also dürfte das Interesse an einfachen Screening- und Diagnosewerkzeugen steigen.Wie reagieren die Personen auf die Diagnose?Ganz unterschiedlich. Einige wenige nehmen sich das Leben, wie der Prominente Gunter Sachs. Doch meist fehlt das Krankheitsbewusstsein, die Demenz ist ja körperlich nicht spürbar, sie tut nicht weh. Viele Personen sind überhaupt nicht beunruhigt, für sie gehört ihr nachlassendes Gedächtnis – oft natürlich zu Recht – zu den normalen Alterserscheinungen. Anderen Personen fehlt zwar auch das Krankheitsbewusstsein, doch sie spüren unbewusst, dass sie nicht mehr so funktionieren wie die anderen, und reagieren auf Stress mit Angst und unangepasstem Verhalten.Was bedeutet das für die Angehörigen?Oft schützt das fehlende Krankheitsbewusstsein die Patienten, doch für die Angehörigen, die sich um diese kümmern, entstehen dadurch zusätzliche Probleme. Viele versuchen, die Kranken zu belehren, verschlimmern aber damit die Situation: Die Angst des Demenzkranken und seine Verhaltensstörungen nehmen zu. Diese beeinträchtigen die Lebensqualität oft mehr als der kognitive Zerfall. Unsere Behandlung richtet sich deshalb nicht nur an die Erkrankten, sondern auch an die Angehörigen: Wir versuchen ihnen im Umgang mit Demenzkranken zu helfen.
(Aus "Horizonte" Nr. 102, September 2014)