Ältere Menschen kommen mit Stress überraschend gut zurecht
Die kognitiven Fähigkeiten von Menschen über Sechzig verschlechtern sich unter akutem Stress nur in wenigen Bereichen. Beim Arbeitsgedächtnis haben sie gegenüber Jungen sogar die Nase vorn.
Ist Ihnen bei einem Bewerbungsgespräch vor lauter Aufregung schon einmal ein Name nicht mehr eingefallen? Oder haben Sie bei einem Vortrag Ihren Text vergessen? Im Labor konfrontieren Forschende ihre Versuchspersonen mit ähnlichen Situationen um herauszufinden, was akuter Stress im Hirn bewirkt.
«Bisher liefert die Forschung widersprüchliche Resultate dazu, ob Stress die kognitiven Fähigkeiten besonders bei alten Menschen einschränkt», sagt Ulrike Rimmele, Professorin für Neurowissenschaften an der Universität Genf und Mitautorin einer neuen Metastudie* des NCCR Lives des SNF zu dieser Frage. Die systematische Analyse, die von Doktorandin Greta Mikneviciute unter der Leitung von Professor Matthias Kliegel durchgeführt wurde, berücksichtigte neunzehn Studien mit etwa 850 durchschnittlich über sechzig Jahre alten Menschen. Die Resultate zeigten, dass stressige Situationen wenig Auswirkung auf deren kognitiven Fähigkeiten haben.
Die Metastudie fand lediglich in Bezug auf die Wortflüssigkeit einen negativen Effekt – dabei geht es beispielsweise darum, in einer bestimmten Zeit möglichst viele Wörter mit dem Anfangsbuchstaben D aufzuzählen. Praktisch keinen Einfluss hatte akuter Stress auf das episodische Gedächtnis, das Erlebnisse der Vergangenheit gespeichert hat, ebenso wenig auf exekutive Funktionen, die etwa das zielgerichtete Lösen von Problemen ermöglichen. Und das Arbeitsgedächtnis – verantwortlich für das kurzfristige Speichern von Informationen − verbesserte sich in stressigen Situationen sogar signifikant.
Erfahrung macht den Unterschied
Besonders interessant sind diese Ergebnisse im Vergleich zu jungen Menschen. Bei diesen verschlechtern sich durch akuten Stress nämlich sowohl das Arbeitsgedächtnis als auch die exekutiven Funktionen. «Möglicherweise haben sich ältere Menschen im Laufe ihres Lebens Strategien zugelegt, um mit stressigen Situationen besser fertig zu werden. Jungen Erwachsenen fehlt diese Erfahrung noch», sagt Rimmele.
Eine wichtige Rolle spielen vermutlich auch physiologische Unterschiede: So steigt beispielsweise bei Stress der Cortisol-Spiegel im Blut – wie sich dies auf die kognitiven Funktionen auswirkt, hängt davon ab, wie viele Rezeptoren für das Stresshormon im Gehirn vorhanden sind. Es ist bekannt, dass bestimmte Hirnareale bei älteren Menschen weniger von diesen Rezeptoren haben als bei jüngeren. Allerdings fehlt es noch an vergleichenden Studien zwischen Jung und Alt, um die genaue Auswirkung dieser Unterschiede zu verstehen.
«Unsere Metastudie hat ausserdem noch viele andere Forschungslücken auf diesem Gebiet identifiziert», so Rimmele. Diese gelte es nun zu schliessen. Denn mehr Wissen über die Vorgänge im jungen und älteren Gehirn könnten in Zukunft dabei helfen, kognitive Fähigkeiten bis ins hohe Alter zu erhalten.