Vollzeitangestellte erkranken häufiger an Krebs
Angestellte mit 100-Prozent-Pensum haben laut einer Studie ein erhöhtes Krebsrisiko; Männer mit eigenem Unternehmen und Frauen, die Vollzeit Haushalt und Kinder betreuen, schneiden besser ab. Noch fehlen eindeutige Erklärungen.
Gewisse Risikofaktoren für Krebs wie Rauchen, Alkohol oder Bewegungsmangel sind gut bekannt, andere hingegen sind schwieriger zu erklären. Zum Beispiel der Einfluss des Arbeitslebens. Mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) im Rahmen des abgeschlossenen NFS LIVES (siehe Infobox) haben Forschende der Universität Freiburg nun gezeigt, dass eine Verbindung zwischen Krebserkrankungen und bestimmten Arten von Berufslaufbahnen besteht. Der in der Zeitschrift Scientific Reports veröffentlichte Artikel (*) kommt unter anderem zum Schluss, dass vollzeitlich in Erwerbsarbeit angestellte Frauen ein deutlich höheres Krebsrisiko haben als Frauen, die Vollzeit Haushalt und Kinder betreuen, aber auch, dass selbständigerwerbende Männer seltener erkranken als angestellte.
Zu diesen Ergebnissen gelangte die Forschungsgruppe, indem sie die Berufslaufbahn von 6809 Frauen und 5716 Männern mit Geburtsjahr 1915 bis 1945 in 14 europäischen Ländern im Detail analysierte. Konkret wurde untersucht, welcher Zusammenhang zwischen langfristigem Krebsrisiko und acht verschiedenen Erwerbsformen besteht, zum Beispiel «überwiegend Vollzeit erwerbstätig», «überwiegend in Haushalt und Betreuung tätig», «Vollzeit erwerbstätig und danach überwiegend in Haushalt und Betreuung» oder «überwiegend arbeitslos».
Unbekannte Risiken neben Rauchen und Alkohol
Angesichts dieser Ergebnisse stellt sich die Frage, wie viel Erwerbsarbeit in welcher Form gesund ist. Eindeutig sind diese Zahlen nur auf den ersten Blick, wie die Hauptautorin der Studie, Rose Van der Linden, betont. Laut der Epidemiologin, die als Postdoktorandin an der Universität Freiburg tätig ist, lässt sich kein direkter kausaler Zusammenhang zwischen Krebshäufigkeit und Berufslaufbahn herstellen.
«Korrelation bedeutet nicht Kausalität, und das Ziel unserer Forschung ist in erster Linie eine Prognose», erklärt sie. Unsere Ergebnisse zeigen, dass wir weiter sondieren müssen. Meine Hypothese ist, dass das erhöhte Krebsrisiko mit Verhaltensweisen zusammenhängt, die bei Personen mit Vollzeitstellen häufiger zu finden sind.»
Diese Verhaltensweisen gilt es nun zu identifizieren. In Bezug auf bekannte Risikofaktoren für Krebs wie Alkohol, Rauchen, Body-Mass-Index, Ernährung oder Bewegungsmangel hat die Forscherin ihre Ergebnisse bereits bereinigt. Die Gründe dürften somit woanders liegen.
«Aktuell können wir nur Vermutungen anstellen», fährt die Forscherin fort. «Stress im Beruf könnte natürlich ein Risikofaktor sein, zum Beispiel bestimmte Arten von körperlicher Belastung. Im Moment führen wir ein Projekt über den möglichen Einfluss von Nachtarbeit durch, weil bestimmte hormonelle Faktoren, die durch Schlafprobleme beeinflusst werden, mit einem häufigeren Auftreten zum Beispiel von Brustkrebs in Verbindung gebracht werden.»
Schlechtere Arbeitsbedingungen für Frauen
Vollzeitangestellte weisen ein höheres Risiko auf als die übrigen untersuchten Kategorien, und bei den Frauen gilt dies verstärkt. Auch hier müssen sich die Forschenden für Erklärungen vorderhand mit Hypothesen begnügen. Laut Rose Van der Linden ist es denkbar, dass erwerbstätige Frauen mehr Stress ausgesetzt sind als Männer, dass sie weniger befriedigende Arbeiten verrichten, die eher zu Depressionen führen, oder dass sie eine ungesunde Kombination aus Berufs- und Hausarbeit zu bewältigen haben. «Umso mehr, als die Kohorte aus Personen besteht, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geboren wurden und deren Erwerbsleben damit in eine Zeit fiel, in der die Geschlechterdiskriminierung stärker ausgeprägt war als heute», erklärt die Forscherin.
Auch die anderen Ergebnisse werfen neue Fragen auf. So ist das Krebsrisiko bei selbständigerwerbenden Männern kleiner als bei angestellten. «Man kann spekulieren, dass Selbstständige motivierter sind, auf ihre Gesundheit zu achten, weil sie im Krankheitsfall ihre Arbeit eher verlieren,» sagt die Forscherin, betont aber:
«Diese Arbeiten sind explorativer Natur.» Hauptziel sei es, neue Richtungen aufzuzeigen, in denen die Wissenschaft im Bereich Arbeitsgesundheit Gründe identifizieren und so Erkenntnisse für die Politik bereitstellen kann. «Wenn wir zum Beispiel einen kausalen Zusammenhang zwischen Nachtarbeit und Krebs feststellen, können wir die Wirksamkeit bestimmter Massnahmen untersuchen: etwa eine kürzere Dauer der einzelnen Nachtschichten oder weniger Berufsjahre mit Nachtarbeit. So können wir dann Empfehlungen abgeben.» Über lange Zeiträume können sich auch kleine Verhaltensänderungen auf das Krebsrisiko auswirken. «Die Menschen verbringen viel Zeit mit Arbeiten, weshalb es mir wichtig scheint, die langfristigen Auswirkungen zu verstehen. Dafür benötigen wir weitere Studien», schliesst Rose Van der Linden.
Überwindung von Verletzbarkeit
Der Nationale Forschungsschwerpunkt (NFS) "LIVES – Überwindung der Verletzbarkeit im Verlauf des Lebens" untersuchte die belastenden Auswirkungen der postindustriellen Wirtschaft und Gesellschaft auf die Entwicklung von Vulnerabilitätslagen in Form sozialer Ausgrenzung oder Gefährdung.