Die Universität als Veranstaltung der Ober- und der Mittelschicht
Wie kann man am besten erreichen, dass bei der Bildung Chancengleichheit gilt und sich nicht nur Gutbetuchte ein Studium leisten können? Die Frage ist von einiger Brisanz, doch erforscht ist sie noch kaum. Von Roland Fischer
Es ist etwas
faul im Staate Schweiz – zumindest was die Unterstützung von Studierenden aus
finanziell schwächeren Familien betrifft. Kurz gesagt: Das Stipendienwesen ist
ein gehöriges föderalistisches Gestrüpp. Es gibt 26 unterschiedliche
Regelungen, das lässt ein Gesuch um Unterstützung zuweilen zum geografischen
Glücksspiel werden. "Die heutige Regelung ist unfair, weil die Nidwaldner
Studentin eine viel kleinere Chance auf ein Stipendium hat und viel weniger
Unterstützung bekommt als der Waadtländer Student, auch wenn sie an der
gleichen Berner Fachhochschule studieren und ihre Familien gleich wenig Geld
haben", schrieb der Verband der Schweizer Studierendenschaften (VSS) unlängst
als Reaktion auf den Entscheid des Ständerats, der sich zum wiederholten Mal
weigerte, Schritte hin zu einer Harmonisierung der Regelungen zu unternehmen
(siehe Kasten). Beispielsweise bekommt im Bündnerland einer von 74 Einwohnern
ein Stipendium, im Kanton Glarus ist es nur gerade einer von 285. Und auch die
Höhe der Unterstützungsbeiträge variiert stark: Auf Hochschulstufe gibt es im
Kanton Neuenburg im Schnitt nur 4000 Franken im Jahr, im benachbarten Kanton
Waadt ist es fast dreimal so viel. Ganz grundsätzlich gilt: Nur in den wenigsten
Kantonen ist genug Geld vorhanden, um alle Studienwilligen so zu unterstützen,
dass das Ideal der Chancengleichheit unabhängig von Herkunft und
Familienverhältnissen erfüllt wäre.
Die
Stipendienmisere ist die Folge einer eigentlich positiven Entwicklung: In den
1960er Jahren begannen die Studentenzahlen anzuwachsen, ein bis heute
ungebrochener Trend. Bis dahin war ein Hochschulstudium ganz
selbstverständlich nur etwas für Gutbetuchte. Insgesamt studierten 1960 an den
acht kantonalen Universitäten und der ETH etwa 14 000 Personen, was einer
Hochschulstudentenquote von nur drei Prozent entsprach – Stipendien waren da
schlicht kein Thema. Dann kam die Bildungsexpansion, und mit ihr 1965 ein
eigentliches Stipendien-Bundesgesetz, das sicherstellen sollte, dass "auch
Kinder aus wenig bemittelten Familien den ihren Fähigkeiten und ihren
Charaktereigenschaften entsprechenden Beruf wählen können", wie Bundesrat
Tschudi damals schrieb. Und in den Anfängen des Schweizerischen
Stipendienwesens erreichte man dieses hehre Ziel auch gut.
Sinkende Stipendien-Quoten
Zwischen 1960 und Mitte der
1970er Jahre verdreifachte sich die Zahl der Studentinnen und Studenten in der
Schweiz – bis heute sind die Studentenzahlen stetig weiter gestiegen. Die
Stipendienausgaben allerdings sind seit 1980 kaum mehr gewachsen, was die
Quote kontinuierlich sinken liess: Bekamen 1980 noch 16 Prozent der Personen,
die eine nachobligatorische Ausbildung machten, ein Stipendium, waren es 2013
nur noch etwas über 7
Prozent. Der Bund engagiert sich dabei kaum mehr: 25 von den insgesamt 300
Stipendienmillionen kommen aus seiner Kasse. Damit gilt offenbar wieder, dass
man sich eine höhere Bildung auch leisten können muss. "Die Universität ist
nach wie vor eine Veranstaltung der Ober- und der Mittelschicht", wie Charles
Stirnimann sagt, Chef des Basler Amts für Ausbildungsbeiträge und Präsident der
Interkantonalen Stipendienkonferenz.
Aus
gesamtgesellschaftlicher Sicht noch interessanter ist die Situation bei den
Fachhochschulen. Diese hätten ein ungleich grösseres Potenzial, auch Menschen
aus bildungsfernen Schichten einen Hochschulabschluss zu ermöglichen, die
soziale Durchlässigkeit sei da viel grösser, sagt Stirnimann. Die
Fachhochschulen müssten dementsprechend auch eine höhere Stipendienquote als
die Universitäten aufweisen – tatsächlich bewegen sich die Quoten aber etwa
auf gleichem Niveau, wie die kürzlich erschienene Stipendienstatistik des
Bundesamts für Statistik zeigt. Für den Historiker und Experten des Schweizer
Stipendienwesens ein schönes Beispiel dafür, dass Stipendien "nicht einfach
eine Sozialleistung, sondern auch eine bildungspolitische Leistung" seien (oder
vielleicht besser: sein sollten) – mit der richtigen Steuerung könne man "das
vorhandene Potenzial der Gesellschaft optimal nutzen" und auch auf
gesellschaftliche Veränderungen hinwirken. Ein Argument, das insofern wieder
aktuell wird, als die Schweizer Arbeitgeber einen Fachkräftemangel beklagen.