Die Expertin für Schmerzen bei Kindern

Helen Koechlin

Chronische Schmerzen bei Kindern wurden lange nicht ernst genommen. Auch heute noch braucht es Sensibilisierung. Dabei hilft die Forschung von Psychologin Helen Koechlin.

Helen Koechlin sitzt am Bistrotisch in der Bahnhofshalle in Zürich. An kaum einem anderen Ort pulsiert das Leben lauter als im Herzstück der Stadt: Luftdruckhämmer schlagen auf den Boden, Trams quietschen, Schuhe klackern in schnellem Takt über den Steinboden, eine Gruppe von Kindern springt sich aus. Hätten sie hier Kopfschmerzen, es wäre kein angenehmer Ort zum Spielen. Koechlin erklärt: «Tatsächlich leiden etwa ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen unter chronischen Schmerzen. Die meisten Menschen sind erstaunt, das zu hören. Schmerzen, die länger als drei Monate anhalten, werden eher in Verbindung mit Erwachsenen gebracht.»

Chronische Schmerzen entstehen auch bei Kindern beispielsweise nach einer Operation oder einem Unfall. Die Beschwerden sind dann ein Symptom einer Erkrankung. Oft bleibt es aber auch bei den Kleinen unklar, was der genaue Auslöser der Schmerzen ist. In diesem Fall ist der Schmerz selbst die Krankheit, man spricht dann von chronisch primären Schmerzen. Bauch- und Kopfschmerzen oder Schmerzen der Muskeln und Knochen sind im Kindes- und Jugendalter am häufigsten. «Gerade bei Kindern und Jugendlichen behindern ständige Schmerzen den Alltag besonders, da sie sich doch eigentlich auf ihre schulische, soziale und emotionale Entwicklung konzentrieren müssten», so Koechlin. «Angst und Depression treten dann oft zeitgleich dazu auf. Neue Studien zeigen sogar, dass chronische Schmerzen bei Jugendlichen das Risiko für erstmals auftretende Suizidalität signifikant erhöhen.» Und haben Kinder und Jugendliche bereits chronische Schmerzen, die nicht angemessen behandelt werden, bestehen diese oft bis ins Erwachsenenalter weiter.

Schmerzexpertin Koechlin ist Psychologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Universitätskinderspital Zürich und Oberassistentin an der Universität Zürich. Ursprünglich vor allem mit Emotionen beschäftigt, kam ihr Interesse am Schmerz auf, als sie während ihrer Dissertation eineinhalb Jahre lang am Children’s Hospital Boston der Harvard Medical School forschte. «Das Thema fasziniert mich, weil es so vielschichtig und interdisziplinär ist», sagt sie.

Neugeborene ohne Anästhesie operiert

Helen Koechlins Forschungsfeld ist eher jung, wie sie erzählt, und viele junge Menschen hätten Schwierigkeiten, wirksame Behandlungsangebote zu finden. Das liege auch an dieser unrühmlichen Geschichte: Noch in den achtziger Jahren operierte man Frühchen und Neugeborene ohne Anästhesie. «Man dachte, dass Frühgeborene keine Schmerzen empfinden, weil ihr Nervensystem noch unreif sei», sagt Koechlin. «Bis in die 1980er-Jahre hielt sich die Überzeugung, dass auch Kinder und Jugendliche Schmerzen weniger erleben können. Das geht teilweise auf Darwin zurück, der Kinder als minderwertige Erwachsene betrachtete.» Erst als 1986 der frühgeborene Jeffrey Lawson nach mehreren Operationen ohne Narkose starb und seine Mutter – unterstützt von Forschenden – an die Öffentlichkeit ging, änderte sich langsam das Bewusstsein.

Das Thema entwickelte sich also erst relativ spät und aus einer Nische heraus. Das merke man auch heute noch: Chronische Schmerzen werden immer noch in erster Linie mit älteren Menschen assoziiert. Was dazu kommt: Erwachsene können sich besser artikulieren – im Gegensatz zu kleineren Kindern, die sich kaum ausdrücken oder für sich einstehen können. Ihnen werden die Schmerzen dann oftmals nicht richtig abgenommen, vor allem, wenn keine klare organische Ursache gefunden werden kann. «Allerdings», so Koechlin, «hat die Forschung in den letzten Jahren grosse Fortschritte gemacht.»

Den Informationsfluss verbessern

Koechlin forscht mit der Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds an mehreren Projekten zum Thema. In einer Untersuchung hat sie herausgefunden, dass Forschungsergebnisse nicht unbedingt unmittelbar das Leben der Familien verbessern: «Die Diskrepanz zwischen dem, was man heute weiss, und dem, was im Leben der Betroffenen ankommt, ist gross.» Die Eltern, die an dieser Studie teilnahmen, berichteten von ihrer Verzweiflung, nicht zu wissen, was mit ihrem Kind los war, was sie tun konnten und wer ihnen helfen könnte. Der Informationsfluss von Forschung zu Praxis funktioniert also schlecht. «Dabei wäre eine frühe interdisziplinäre Behandlung sinnvoll. Dazu gehören etwa Physiotherapie oder Psychotherapie.» Das unterstütze Kinder und Jugendliche dabei, die vier «S» zu verbessern: Schule, Schlaf, Sport und Soziales. Als Folge davon verbessern sich häufig auch die Schmerzen. «Momentan vergehen im Schnitt 24 Monate, bis ein Kind erstmals bei einer spezialisierten Schmerzsprechstunde vorstellig wird.» Kein Wunder: Eine Umfrage unter Schweizer Kinderärztinnen und -ärzten, die Koechlin durchgeführt hat, hat gezeigt, dass die Mehrheit kaum Erfahrung mit der Behandlung chronischer Schmerzen hat und sich damit nicht sicher fühlt. «Ein wichtiger Punkt, um hier anzusetzen, ist das Medizinstudium. Mehr Artikel in Verbandszeitschriften oder Kurse und Workshops: Was genau am besten funktioniert, muss die Zukunft zeigen – meine Forschung kann hoffentlich dazu beitragen, den Wissenstransfer zu verbessern.»

Die nächsten Forschungsprojekte Koechlins konzentrieren sich nun auf länger andauernde Schmerzen, die nach einer Operation entstehen oder sich intensivieren. Rund 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen, die sich einer Operation unterziehen müssen, leiden daran. Koechlin möchte nun Klarheit darüber gewinnen, welche Faktoren das Risiko erhöhen oder vermindern, dass akute Schmerzen nach einer Operation chronisch werden. Diese Studie soll einen Beitrag dazu leisten, Kinder und Jugendliche mit einem hohen Risiko für eine Schmerzchronifizierung in Zukunft frühzeitig erkennen und unterstützen zu können.

Hier am HB Zürich kommt die Oberassistentin vorbei, wenn sie aus Basel in ihr Büro beim Kinderspital pendelt: «Wenn man von allen Leuten hier in der Halle ein Röntgenbild der Wirbelsäule machen würde, hätten wohl die meisten kleinere Verschleisserscheinungen. Und trotzdem haben nicht alle Rückenschmerzen. Schmerzen sind subjektiv, aber echt.» Sie möchte, dass Eltern, Lehrpersonen, Ärztinnen und Ärzte chronische Schmerzen in jedem Fall ernst nehmen. «Und zwar sogar dann, wenn keine eindeutige organische Ursache zu finden ist.»

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