Weniger Stress mit Stress dank Grundlagenforschung
Der diesjährige Preis Optimus Agora geht an das Projekt "Stress": Dominique de Quervain und Carmen Sandi fördern den Austausch mit der Bevölkerung zum Thema Stress.
Stress ist für viele Menschen Alltag. Wen wir ihn besser verstehen, können wir ihn auch besser verhindern und so unsere Lebensqualität erhöhen. Deshalb haben die Neurowissenschaftler Dominique de Quervain (Universität Basel) und Carmen Sandi (EPFL) das vom SNF unterstützte Agora-Projekt "Stress" lanciert. Dazu gehören eine online Informationsplattform und die Organisation von öffentlichen Informationstagen. Das Projekt gewinnt den diesjährigen Preis Optimus Agora. Die Preisverleihung findet im September 2020 anlässlich des Jahreskongresses für Wissenschaftskommunikation ScienceComm'20 statt.
Ihr möchtet die Sichtbarkeit von Stressforschung erhöhen. Wieso ist das wichtig?
Dominique de Quervain: Alle wissen zwar, wie sich Stress anfühlt, trotzdem wissen wir wenig über seine Mechanismen und was wir dagegen tun können; vielleicht weil die Stressforschung vor allem Grundlagenforschung betreibt und nur wenig davon in allgemein verständlicher Art publiziert wird. Wir glauben deshalb, dass grössere Sichtbarkeit und bessere Kommunikation dringend nötig sind.
Was genau wollen Sie mit Ihrem Projekt erreichen?
Carmen Sandi: Das dreijährige Projekt startet im Juni und hat zwei Hauptbestandteile: Erstens wollen wir eine Webplattform erstellen, um das aus unserer Forschung gewonnene Wissen breiter bekannt und öffentlich zugänglich zu machen. Dort finden sich zum Beispiel Vorschläge für den Umgang mit Stress bei der Arbeit und dazu, wie ein Burn-out verhindert werden kann. Auf der Plattform können die Leute auch Fragen stellen und sich über verschiedene Situationen im Zusammenhang mit Stress informieren. Zweitens wollen wir Informationstage zum Thema organisieren. Sie finden in denjenigen Städten statt, wo es Laboratorien für Stressforschung gibt, nämlich in Lausanne, Genf, Freiburg, Bern, Basel und Zürich. Bei den Anlässen wird es jeweils sowohl Konferenzen organisieren als auch spielerischen Workshops in Kleingruppen. Die Besucherinnen und Besucher sollen erleben können, wie der Körper in Stresssituationen reagiert und wie er sich danach wieder entspannt. Wir werden zum Beispiel Virtual Reality einsetzen, um die Leute vor ein grosses Publikum zu stellen oder auf einen Berggipfel. Wir wollen die physiologischen Prozesse erklären und Besuche in die Forschungslabors organisieren.
Sie konzentrieren sich auf die Interaktion mit dem Publikum. Wie bringt dieser Austausch die Stressforschung weiter?
Dominique de Quervain: Für uns ist es wichtig zu wissen, was die Bevölkerung braucht. Auch andere Forschungsgebiete entwickeln sich in diese Richtung. Für die Bevölkerung wiederum ist es wichtig, von Fachleuten informiert zu werden anstatt von Pseudoexperten, die Ratschläge erteilen, ohne diese wissenschaftlich belegen zu können.
Ist Stress eigentlich immer etwas Negatives?
Carmen Sandi: Nein, bis zu einem gewissen Punkt ist er eine positive Reaktion, die der Körper braucht, damit er bei Herausforderungen zusätzliche Ressourcen freisetzen kann. Aus der Perspektive der Evolution ist Stress etwas ganz Normales. Wenn er aber ein bestimmtes Mass übersteigt, kann er depressive Symptome auslösen, Motivation reduzieren und andere negative Folgen haben, wie zum Beispiel ein erhöhtes Risiko von Burn-outs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes.
Ununterbrochene Vernetzung und Druck bei der Arbeit sind heute für viele Realität – trotzdem: Ist Stress wirklich neu?
Dominique de Quervain: Nein, das ist kein neues Phänomen, aber die Faktoren haben sich verändert. Früher war es ein harter Winter, heute ist es eine Deadline bei einem Projekt. Derzeit erleben wir zudem eine neue Form von Stress.
Sie sprechen die Coronakrise an?
Dominique de Quervain: Genau. Sie ist etwas ganz Neues, und wir müssen gleich mit mehreren neuen Stressfaktoren umzugehen lernen. Dazu gehören unter anderem die Angst vor dem Virus selbst, die unsichere Arbeitssituation und die Einschränkungen im Sozialleben. Im Moment kann niemand abschätzen, wie sich das alles auf unsere psychische Gesundheit auswirkt. Deshalb wurde eine landesweite Studie lanciert, die sich mit dieser Frage befasst.